Zur Haftungsverteilung bei einem Kettenauffahrunfall

AG Mannheim Urteil vom 15.5.2009, 3 C 7/08

Zur Haftungsverteilung bei einem Kettenauffahrunfall

Tenor

1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 2.314,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12. 2007 zu zahlen.

2. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 272,87 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12.2007 zu zahlen.

3. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner 69%, die Klägerin trägt 31%.

5. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages, für die Beklagten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Klägerin macht mit ihrer Klage Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.

Am 08.11. 2007 ereignete sich gegen 08.50 Uhr auf der … Straße in X-Stadt ein Kettenauffahrunfall, an dem drei Fahrzeuge beteiligt waren. Die Klägerin war Halterin und Fahrerin des mittleren Pkw, eines … mit dem amtlichen Kennzeichen …. Der Beklagte zu 1) war Führer des hinteren Pkw, eines … mit dem amtlichen Kennzeichen …, welcher zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war.

An dem klägerischen Fahrzeug entstand aufgrund des Unfalls ein (Reparatur-)Schaden in Höhe von 6.504,62 EUR, der Wiederbeschaffungswert liegt bei 2.675 EUR, der Restwert beläuft sich auf 300.- EUR. Für den Frontschaden sind dabei 1.644,77 EUR (netto), für den Heckschaden 3.678,08 EUR (netto) anzusetzen – Abweichungen von der Endkalkulation des Gutachtens (5.466,07 EUR netto) werden dabei von beiden Seiten nicht thematisiert und so akzeptiert. Gutachterkosten belaufen sich auf 546,45 EUR.

Zahlungen der Beklagten erfolgten nicht.

Die Klägerin trägt zum Unfallhergang vor, sie habe aufgrund der Bremsung des vor ihr fahrenden Fahrzeugs verkehrsbedingt gehalten und sei auch vor diesem Fahrzeug zum Stehen gekommen. Daraufhin sei der Beklagte zu 1) auf das Fahrzeug der Klägerin aufgefahren und habe dieses auf den davor stehenden Pkw aufgeschoben.

Die Klägerin trägt weiter vor, sie habe aufgrund des Unfalls eine HWS-Distorsion sowie eine Schädelprellung erlitten und sei in Folge dessen vom 9.11.2007 bis zum 14.11.2007 arbeitsunfähig gewesen.

Sie ist der Auffassung, die Beklagten seien unter Einrechnung der Gutachterkosten und einer Auslagenpauschale i.H.v. 20.- EUR zur Erstattung des gesamten entstandenen Schadens zzgl. eines Schmerzensgelds i.H.v. mindestens 400.- EUR verpflichtet.

Die Klägerin beantragt daher,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, 2.941,45 EUR zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.12.2007 zu zahlen,

2. die Beklagten weiter gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12.2007 zu zahlen,

3. die Beklagten weiter gesamtschuldnerisch zu verurteilen, vorgerichtliche Anwaltskosten i.H.v. 359,50 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12.2007 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, die Klägerin sei bereits auf das vor ihr stehende Fahrzeug aufgefahren, bevor der Beklagte zu 1) auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren ist. Der Beklagte zu 1) habe das Auffahren aufgrund der durch die abrupte Bremsung der Klägerin verursachten Bremswegverkürzung trotz einer sofort eingeleiteten Bremsung nicht mehr verhindern können.

Aufgrund des geschilderten Unfalls träfe den Beklagten zu 1) an dem Frontschaden des klägerischen Fahrzeugs keine Schuld, auch der Heckschaden sei nicht zu ersetzen, da der Bremsweg durch das Fahrverhalten der Klägerin für den Beklagten Ziffer 1 verkürzt worden sei.

Zudem seien die Verletzungen der Klägerin nach dem Unfall entweder nicht vorhanden oder nicht unfallbedingt gewesen.

Das Gericht hat bezüglich des Unfallhergangs Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … im Termin vom 23.04.2009 sowie durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen …, gemäß Beweisbeschluss vom 06.06.2008. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom 23.04.2009 (Blatt 178 ff.) und des schriftlichen Gutachtens (Blatt 104 ff., Blatt 137 ff.) verwiesen.

Bezüglich der Verletzungen der Klägerin hat das Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen …. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom 12.03.2009 (Blatt 165 ff.) Bezug genommen.

Zum weiteren Parteivortrag wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist lediglich teilweise begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 7, 11, 18 I StVG, 823 BGB, 115 I S. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG.

Eine vollständige Einstandspflicht der Beklagten für das Unfallgeschehen besteht nicht, wobei bei dem hier vorliegenden Kettenauffahrtunfall zwischen dem eingetretenen Frontschaden und dem Heckschaden zu unterscheiden ist.

Frontschaden

Während grundsätzlich bei einem Auffahrunfall der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, dass der Auffahrende sich unachtsam oder verkehrswidrig verhalten hat und dieser daher gegebenenfalls einen anderen Unfallhergang beweisen muss, ist diese Regel bei einem Kettenauffahrunfall nur bedingt anwendbar.

Hier muss der Führer des mittleren Fahrzeugs, die Klägerin, bezüglich des Frontschadens an ihrem Pkw beweisen, dass ihr Fahrzeug aufgrund des Auffahrens des Hintermannes auf das vordere Fahrzeug aufgeschoben wurde, ein vorheriges Auffahren ausscheidet, der geltend gemachte Schaden somit auf das Aufschieben durch das Beklagtenfahrzeug zurückzuführen ist.

Dieser Nachweis ist der Klägerin nicht gelungen.

Nach den Ausführungen in dem Gutachten des Herrn Dipl.-Ing. … spricht zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Unfall sich dem klägerischen Vortrag entsprechend zugetragen hat. Es kann jedoch auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin vor dem Auffahren des Beklagten zu 1) bereits leicht auf das vordere Fahrzeug aufgefahren war (und hierdurch bereits ein Schaden entstand).

Dieser – auch mögliche – Geschehensablauf wird durch die Aussagen der Zeugen … untermauert. Diese waren Insassen des vorderen Fahrzeugs und gaben sowohl bei ihrer polizeilichen Vernehmung als auch bei ihrer Zeugenaussage am 23.04.2009 – übereinstimmend und durchaus überzeugend – an, zwei verschiedene Anstößen an ihrem Pkw gespürt zu haben.

Es ist dem Gericht aufgrund dieser Konstellation nicht möglich, die klägerische Unfallversion dem Urteil zugrunde zu legen, vielmehr musste es zumindest offen bleiben, ob nicht doch die Klägerin vor dem Aufschieben durch den Beklagten Ziffer 1 das Erstfahrzeug der Zeugen … berührt hatte.

Da weder die Klägerseite dargestellt hat noch sich sonst aus den vorliegenden Unterlagen ergab, welcher Teil des Frontschadens auf das mögliche erste Auffahren und welcher Teil auf das Aufschieben zurückzuführen war, konnten auch Teile des vorhandenen Frontschadens nicht zugesprochen werden – ein Herausrechnen und/oder eine Schätzung war (auch aufgrund des letztlich zumindest unklaren Sachverhalts im Frontbereich) nicht möglich. Auch die „Entwicklung“ des Wiederbeschaffungswertes nach dem ersten Frontschaden mußte damit ungeklärt und offenbleiben.

Heckschaden

Das Gericht geht von einer vollständigen Einstandspflicht der Beklagten für den entstandenen Heckschaden aus.

Zwar ist bei einem Kettenauffahrunfall für die Haftung des mittleren Fahrzeugs eine erhöhte Betriebsgefahr, ggfs. auch ein Verschulden möglich, wenn das mittlere Fahrzeug den Bremsweg für das dritte Fahrzeug erheblich verkürzt hat, jedoch ist vorliegend eine derartige Bremswegverkürzung nicht anzunehmen.

Aufgrund der Ausführungen im Gutachten des Dipl.-Ing. … geht das Gericht davon aus, dass lediglich eine leichte Berührung zwischen dem Fahrzeug der Zeugen … und dem der Klägerin stattgefunden hat, wodurch die Front des klägerischen Fahrzeugs allenfalls leicht beschädigt wurde.

Dieser (geringfügige) Anstoß war nicht geeignet, den Bremsweg für das nachfolgende Fahrzeug entscheidend zu verkürzen – weitere (bremswegverkürzende) Umstände werden von Beklagtenseite nicht vorgetragen.

Dies wird auch durch die Aussagen der Zeugen … nicht widerlegt, denn diese konnten bei ihrer Aussage zur Intensität der Anstöße letztlich keine verlässlichen Angaben machen.

Ohne eine derartige Bremswegverkürzung bleibt es jedoch bei der vollen Einstandspflicht des Auffahrenden.

Schadenshöhe

Die Zahlen zum entstandenen Schaden sind zwischen den Parteien unstreitig. Danach ist von einem Wiederbeschaffungswert i.H.v. 2.675.- EUR, einem Restwert i.H.v. 300.- EUR, einem Heckschaden i.H.v. 3.678,08 EUR und einem Frontschaden i.H.v. 1.644,77 EUR auszugehen. 69,10 % entfallen damit auf den Heckschaden, 30,90 % auf den Frontschaden.

Unter Hinweis auf das Urteil des LG Berlin vom 07.11.2007 (AZ 24 O 744 / 05), dieses wiederum unter Hinweis auf BGH NJW 1973, 1283 ist es in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine ursächliche Beteiligung des Beklagten Ziffer 1 auch am Frontschaden unzweifelhaft angenommen werden kann, dessen genauer Umfang jedoch nicht ermittelbar ist, möglich, den Schaden insgesamt zu schätzen.

Weder kann aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhangs zugunsten der Klägerin eine genaue Aufgliederung und Trennung der Schäden erfolgen, noch kann etwa die Beklagtenseite beweisen, dass bereits der erste Frontanstoß zu einem Totalschaden des Klägerfahrzeugs geführt hat (so die Konstellation der Entscheidung des LG Berlin; was angesichts der mitgeteilten Werte eher unwahrscheinlich sein dürfte), noch wie sich der Wiederbeschaffungswert bzw. Restwert nach dem ersten Frontanstoß entwickelt hat.

Für die Schätzungsgrundlagen darf dabei auf den Wiederbeschaffungswert vor Eintritt auch des Frontschadens ausgegangen werden; dieser beläuft sich auf 2.675.- EUR. Die Klägerin kann 69,10 % dieses Schadens ersetzt verlangen, somit 1.848,43 EUR (bei der angenommenen vollen Einstandspflicht der Beklagten für den Heckschaden) abzgl. Restwert i.H.v. 300.- EUR, somit im Ergebnis 1.548,43 EUR.

Nachdem die Klägerin somit 65,20 % ihres Schadens erhält, waren mit dieser Quote auch die Sachverständigenkosten (546,45 EUR) und die Auslagenpauschale (15.- EUR) zuzusprechen, somit weitere 366,07 EUR.


Schmerzensgeld

Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 400.- EUR.

Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die Klägerin aufgrund des Unfalls eine HWS-Distorsion sowie eine Schädelprellung davongetragen hat und in Folge dessen vom 09.11.2007 bis zum 13.11.2007 arbeitsunfähig war. Dies wird zum einen durch die Bescheinigungen der Ärzte …, bei welchem die Klägerin noch am Unfalltag vorstellig wurde, attestiert, zum anderen hat der Zeuge … die nach dem Unfall verletzungsbedingt schlechte körperliche Verfassung der Klägerin überzeugend bestätigt. Die Angaben des Zeugen deckten sich dabei in den wesentlichen Punkten mit den informatorischen Angaben der Klägerin, ohne dabei abgesprochen oder gar erfunden zu wirken.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine HWS-Distorsion mit Schädelprellung und einer daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit nicht mehr als Bagatellverletzung anzusehen. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.- EUR ist angemessen.

Dabei ist von einer vollständigen Einstandspflicht der Beklagten auszugehen. Der erste Frontaufprall war geringfügig und hat damit nach Überzeugung des Gerichts noch nicht zu einer HWS-Distorsion geführt. Diese kann allein und ausschließlich dem Heckaufprall zugeordnet werden, für den eine vollständige Einstandspflicht der Beklagten zu bejahen war.

Ergebnis

Insgesamt ergibt sich somit ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagten auf Zahlung von 2.314,50 EUR.

Aus diesem Streitwert errechnete sich auch die von Beklagtenseite zu ersetzende 1,3-Anwaltsgebühr i.H.v. 272,87 EUR.

Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus §§ 280, 286, 288 I BGB, 92 I, 709 ZPO.

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